Vom Verabschieden. | Eva Karel | Brutstätte für Yoga, Text & Bild

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Vom Verabschieden.

12. November 2019
Vom Verabschieden.

In drei Wochen wäre meine Großmutter 101 geworden. Von klein an hat sie mir am Klavier drei Stücke vorgespielt. Immer dieselben drei. Aber der Türkische Marsch, Der Hölle Rache und Für Elise waren von ihren knorrigen Fingern am Bösendorferflügel gespielt eine andere Partie, als aus den Laptopboxen.

Gern hätte ich sie noch gesehen, doch sie war schon abgeholt worden. Aus ihrer Wohnung, die jetzt vermutlich nur noch kurz in exakt dem Zustand sein wird, wie ich vor fast vier Jahrzehnten dort erstmals herumgekrabbelt bin. Dort war immer alles gleich. Museumsartig versteinert. Schon interessant, dass das geht. Dass sie weg sein kann, wenn das vorher immer anders war. Vielleicht braucht es die Tränen zum Aufweichen der festgesetzten Patina, dieser Kruste der Selbstverständlichkeit. Zack, weg. Das muss ja erst sukzessive einsickern, bis der neue Zustand normal wird und damit das leise Verschwinden einsetzt. Mir ist nämlich aufgefallen: Die Stimme meines Opas ist weg. Ich weiß nicht mehr so recht, wie die klang, als er mir auf meinem gelben Kinderfahrrad hinterher gerannt ist, damit ich nicht umfalle. Die Stimme meiner Großmutter ist noch da. Jeder Tonfall, jede vorhersehbare Reaktion, jedes Detail. Noch.

Ambivalenz ist die Summe dessen, was ich stets für sie empfand. Als wäre sie einer längst vergangenen Zeit entstiegen grübelte sie über schweren kunsthistorischen Wälzern. Befindlichkeiten empfand sie als drastisch überbewertet. Nähe erlangte man, indem man Anlass gab, stolz zu sein, indem man sich bewährte. Dann nickte sie kurz zufrieden.

Sie war schon da, als die Bezirke Wiens zur Stadt Wien zusammengeführt wurden. Sie war da, als Lavendelweiber mit Kräutern in Körben auf die Rücken gebunden auf der Ringstraße ihre Ware feilboten. Einmal brach sie sich den Ellbogen, als sie auf eine fahrende Bim aufsprang, die damals noch offene Türen hatten.

Bis zuletzt ging sie täglich drei Stockwerke, um ja nicht einzurosten, um ja nicht irgendwann oben in ihrer Wohnung mit Blick über den Türkenschanzpark festzusitzen. In der Wohnung, auf deren verglastem Balkon ich nie wieder kerzengerade sitzend Mandelblättchen futtern und viel zu leichten Filterkaffee aus viel zu wertvollen Kaffeetassen schlürfen werde. Kaffeetassen, die dir das Wahrnehmen des grauslichen Kaffees verunmöglichen, weil du so damit beschäftigt bist, nichts kaputt zu machen.

So oft wollte ich sie durchbeuteln und warum ich jetzt so weinen muss, weiß ich auch nicht.

Letzte Nacht ist sie gestorben. Gute Reise, Gogo.